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George Hinge

 

Der dorische Akzent in den hellenistischen
Korpora der archaischen Meliker

 

 

0. Ich werde mich hier auf ein spezielles Problem der Akzentlehre konzentrieren, und zwar, wie die gelegentliche Abschaltung des sog. σωτῆρα-Gesetzes im Dorischen zu erklären sein mag. Der Ausgangspunkt wird der Text der archaischen Chorlyriker (oder, mit einem antiken Terminus, Meliker) Alkman, Stesichoros und Ibykos sein, deren Papyri weitgehend den dorischen Akzent bezeugen.[1]

1. Die altgriechischen (und bis vor einigen Jahrzehnten auch noch die neugriechischen) Drucktexte bedienen sich drei verschiedener Akzentzeichen, und zwar des Akuts (ὀξεῖα), des Gravis (βαρεῖα) und des Zirkumflexes (περισπωμένη), die nur auf die drei letzten Silben und nur auf eine von ihnen gesetzt werden können. Sie verteilen sich nicht gleich, sondern sind teils komplementär und teils austauschbar: Auf die letzte Silbe dürfen sowohl ein Akut als auch ein Zirkumflex gesetzt werden, solange der Vokal lang ist, und die Silbe sich im Satzschluss oder vor einer Pause befindet; vor einem anderen Wort wird der Akut zwangsläufig durch einen Gravis ersetzt. Ist die letzte Silbe dagegen kurz, können wir ausschließlich einen Akut oder einen Gravis haben, je nach der Stellung des betreffenden Wortes. In der vorletzten Silbe haben wir niemals den Gravis, und der Akut und der Zirkumflex ergänzen sich ohne Überschneidung, so dass wir auf einem langen Vokal vor einer kurzen Schlusssilbe den Zirkumflex haben, vor einer langen Schlusssilbe aber den Akut. Auf einem kurzen Vokal in der vorletzten Silbe und überhaupt in der drittletzten Silbe begegnet uns ausschließlich der Akut.

Wie oben dargestellt ist das klassische, auf der hellenistischen Rezeption der ionisch-attischen Praxis gegründete System. Wir lernen es bei den Grammatikern der Kaiserzeit kennen, und es wird auch in den mittelalterlichen Handschriften einigermaßen durchgeführt. In den antiken Papyrustexten - die wir in der Regel als einzige direkte Quelle zur Verfügung haben - ist die Praxis nicht so eindeutig. In den meisten Texten haben wir gar keine Akzente[2] (es ist v.a. die Regel in den Prosatexten, die die Sprachbenutzer vermutlich ohne Schwierigkeiten vorlesen konnten), aber wenn ein Text endlich einmal mit Akzenten versehen worden ist, wird dies oft nur teilweise getan (gern auf zweideutigen oder auf aus der Sicht der Koine außergewöhnlichen Wörtern), aber dafür gelegentlich redundant, so dass wir auf einem einzelnen Wort mehrere Akzente treffen: Der Gravis steht gelegentlich auf den Silben vor und nach derjenigen, die im konventionellen System den Akut bzw. den Gravis oder den Zirkumflex tragen. Im Louvre-Papyrus von Alkman (der das sog. große Partheneion enthält) finden sich z. B. die Schreibungen: V. 5 κὸρὺστὰν „Krieger“ und V. 72 Κλὲὴσισήρα (Frauenname).

Der griechische Akzent war im Altertum immer noch musikalisch, ein pitch-Akzent, im Gegensatz zum dynamischen stress-Akzent, der wahrscheinlich irgendwann in der Kaiserzeit hervordringt und im heutigen Griechisch die Regel ist. Der Akut bezeichnet den Tongipfel, der Zirkumflex dagegen einen Ton, der schon innerhalb des betreffenden Vokals abnimmt (dementsprechend bezeichne ich in der phonologischen Transkription den Zirkumflex durch einen Akut auf dem ersten Vokalsegment).[3] Der Wert des Gravis ist dagegen umstritten. Wenn man das Zeugnis der mit Noten versehenen melodischen Texte glauben darf[4], bezeichnet er im konventionellen System einen etwas niedrigeren Ton als der Akut. Der redundante Gravis in den Dichterpapyri bezeichnet somit die Tonsteigung und die Tonabnahme.[5]

2. Nicht nur im Gebrauch des Gravis weichen die Papyri der unter den Namen Alkmans, Stesichoros und Ibykos in dorischem Dialekt überlieferten archaischen Dichtung von der traditionellen Praxis ab.[6] Es handelt sich in jenem Fall lediglich um einen orthographischen Unterschied, der mit dem dialektalen Charakter des betreffenden Textes nichts zu tun hat. Auch die Lage des Hauptakzentes und die Opposition Akut : Zirkumflex[7] werden aber in solchen Texten mitunter etwas anders behandelt, als es in den herkömmlichen ionisch-attischen prosaischen und poetischen Texten der Fall ist. Wir haben es hier mit Zeugnissen des sogenannten dorischen Akzentes zu tun, den auch die Grammatiker der römischen Kaiserzeit und der byzantinischen Epoche in ihren Handbüchern bezeugt haben. Mit den in Ägypten gefundenen Papyri haben wir jetzt die Gelegenheit, ihre Lehre zu überprüfen und zu präzisieren. Die betreffenden Meliker sind in den mittelalterlichen Handschriften nur in Zitaten bekannt, deren Akzentuation stets der ionisch-attischen Praxis des umgebenden Textes folgt. Da die Akzente solcher Textauszüge wahrscheinlich erst spät (um 800 n. Chr.) eingeführt wurden und für die Frage des dorischen Akzentes ohne belang sind, sehe ich in diesem Aufsatz von ihrem Zeugnis ab.

Die dorischen Akzenteigentümlichkeiten sind teils paradigmatisch und teils wortspezifisch. Gewisse Endungen, die im Ionisch-Attischen als kurz gelten und deshalb die Zurückziehung des Akzentes auf die drittletzte Silbe oder einen Zirkumflex auf der zweitletzten Silbe erlauben, werden im Dorischen offenbar als lang betrachtet. Die Diphthonge, die eigentlich lang sind, gelten, was den Akzent betrifft, im Auslaut bald als lang und bald als kurz: Im Optativ sind sie lang (z. B. λείποι, ἀκούσαι), aber im Nominativ Plural (z. B. χῶραι, ἄνθρωποι), im Medium (z. B. λύεται, ποιεῖται) und im Aorist Infinitiv (z. B. ἀκοῦσαι) gelten sie als kurz. Dies scheint dagegen nicht im Dorischen der Fall gewesen zu sein: In den Papyri begegnet uns folgende Beispiele:

Nom. Plur. auf -αι, -οι : Alkm. 1.14 γεραὶτάτοι „die ältesten“, .21 ερογλεφάρὸι „liebe“, .22 ]τάτοι „die ...-sten“, .35 μὴσὰμένοι „ausgedacht habende“, .63 αuειρομέναι „sich erhebende“; Stes. S21.2 εχόισαι „habend“, S22.7 δι]απρυσίοι „durchbohrend“, S26.2 αρίστοι „die besten“, 222 Kol. I.2 οψιγόνοι „spätgeborene“, ασπασί|[οι „willkommene“; Ibyk. S151.17 κόιλα[ι „gewölbte“, .18 πολυγόμφοι „mit vielen Nägeln“, .23 Μοίσαι „Musen“, σεσοφι[σ]μέναι „kunstvolle“, S166.18 αντὶθέοι „gottgleiche“, S192(b).14 ὰγερώχοι „stolze“.

Med. auf -(ν)ται, -σθαι : Alkm. 1.44 μὼμέσθαι „tadeln“, .59 δραμέιται „wird rennen“.

Aor. Inf. auf -(σ)αι : Alkm. 1.65 αμύναι „wehren“, 3.3 ακούσαι „hören“.

Die einzigen Ausnahmen sind Alkm. 1.42 μαρτύρεται „bezeugt“, Stes. 222(a) Fr. 4.7 πε]ύσεαι „wirst erfahren“ und Ibyk. S181.3 ευχετάασθαι „beten, prahlen“. Der auslautende Diphthong des Mediums gilt in der Lage des Akzents offensichtlich als kurz, in der Wahl zwischen Akut und Zirkumflex aber als lang. Die gleiche Schiefheit - aber eben umgekehrt - kommt auch im Ionisch-Attischen im athematischen Infinitiv vor: φῦναι ~ ἰέναι. Was die Ursache der Anomalie auch sein mag, die nichtkontrahierten Media haben in allen überlieferten Urkunden den Akzent auf der drittletzten Silbe, und der unterschiedliche Vorgang wurde auch von den antiken Grammatikern vorgeschrieben.[8]

Drei Endungen auf kurzen Vokal + Konsonanten werden im Ionisch-Attischen als kurz, in den Papyri unserer Meliker aber als lang gerechnet.

Them. Inf. auf -εν (< *-e(h)en): Alkm. 1.43 φάινεν „scheinen“, .95 ἀ]κούε[ν „hören“.

Athem. Inf. auf -μεν : Alkm. 1.45 είμεν „sein“.

3. Plur. Prät.: Alkm. 4 Fr. 1.6 εδείξαν „zeigten“, 162 Fr. 1(b).13 ηΐσα[ν „gingen“; Stes. S39.3 ηλύθον „kamen“, 222 Kol. II.2 ιζάνον „saßen“, 222(a) Fr. 11(b).3 ]ολέσα[ν „töteten“, Fr. 35.15 δ επλέχθεν (oder δε πλέχθεν) „wurden geflochten“; Ibyk. S151.2 ηνάρον „zerstörten“, .18 ελεύσα[ν „segelten“, .45 εΐσκον „verglichen“, S166.12 εδώκ[αν „gaben“, S176.8 ν]ικάσαν „besiegten“.[9]

3. Einige haben den Akut durch paradigmatischen Ausgleich interpretiert (etwa ἀνθρώποι nach ἀνθρώπους, -ων, -οις und ἐλέγον nach ἐλέγομεν, -ετε).[10] Weshalb der Anlass zur Analogie im Dorischen dringender gewesen sein soll als im Ionisch-Attischen, leuchtet mir nicht ein. Aus dem Fall des attischen πόλεως (statt †πολέως) geht es deutlich hervor, dass die Vorschiebung des Akzents vor einer langen Schlusssilbe älter sein muss als die sog. quantitative Metathese (< πόληος).[11] Und die komplementäre Zurückschiebung des Akzents auf die drittletzte Silbe, wo die Schlusssilbe kurz ist (die sog. Barytonese), muss ihrerseits früher sein als die Kontraktion: vgl. ἐποιέετο > ἐποιεῖτο (nicht †ἐποίειτο, wie im Falle der jüngeren lesbischen Barytonese: Sapph. 44.15 παρθενίκα[ν < *-ān < *-āōn. Solche Beispiele regen eher zu einer diachronen Erklärung an.

Formen wie ἐδείξαν und ἠλύθον sind aller Wahrscheinlichkeit nach dadurch zu erklären, dass ihre letzte Silbe zur Zeit der allgemeinen Zurückschiebung des Akzents immer noch als lang galten. Entweder fiel das auslautende *t im Dorischen später weg als im Ionisch-Attischen, oder der Akzent blieb dort auf einer früheren Stufe stehen: *h1é h1ludhont >urdorisch *ēlúthont > ἠλύθον.[12] Die dorische Behandlung der 3. Plural *-ont, *-ant ähnelt einigermaßen derjenigen vom Akkusativ Plural auf *-ans, *-ons: z. B. χώρᾱς, nicht †χῶρᾱς, das hinsichtlich der Moren mit πόλεως identisch gewesen wäre (†/khóo.raas/ = /pó.le.oos/) und somit nicht ohne weiteres auszuschließen wäre. Das Endergebnis der beiden Endungen ist natürlich nicht dasselbe, weil *ns den Nasal mit Ersatzdehnung verlor, *nt dagegen den Verschlusslaut ohne Ersatzdehnung; in der Epoche aber, in der die Lage des Akzents festgelegt wurde, waren sie prosodisch gleich.

Die Wörter auf Diphthong und auf kurzen Vokal + Konsonanten sind ohnehin einer doppelten prosodischen Natur. In der Verslehre gelten derartige Schlusssilben vor Konsonanten als lang und vor Vokalen als kurz: etwa νήπιοι οἱ = /neé.pi.o.i hoi/, μῆνιν ἄειδε = /mée.ni.n á.ei.de/. Soweit stimmt die Akzentlehre mit der Verslehre überein. Der Akzent ist aber erstarrt, in dem Sinne, dass er im historischen Griechisch vom Kontext des Wortes unabhängig geworden ist: Il. 13.624-5 μῆνιν | ξεινίου = /mée.nin. ksee.ní.ọ /, Il. 1.23 αἰδεῖσθαι θ᾿ ἱερῆα /ai.dees.thai. t hi.e.rée.a/.[13] Auf dieselbe Weise ist der Akzent auch dort beibehalten worden, wo der prosodische Anlass nicht mehr da ist: Ibyk. S151.44 ἐΐσκον ὁμοῖον = /e.ís.ko.n ho.mói.on/ (*/e.wík.skon.t ho.mói.on/).[14] Die diphthongisch auslautenden Formen, die von Haus aus prosodisch zweideutig sind, hatten sich für die eine oder für die andere Akzentuation entschieden, was für die Unterscheidung der Formen sehr nützlich ist. Nagy setzt übrigens die dorische Wahl der antekonsonantischen Akzentvariante mit anderen besonderen Wahlen desselben Dialektzweiges in Verbindung:[15] Dat. Sing. /-o:i#V/ ~ /-oi#C/: -ωι, ark., eleisch, böot. -οι (später auch im Nwgr.); Akk. Plur. /-ons#V/ ~ /-os#C/: -ους / -ως, thess., ark., ther., kyr. -ος; Part. */kan#V/ ~ */ka#C/: ion.-att. ἄν, dor. κα; 3. Plur. /-tsi#V/ ~ /-ti#C/: -σι, -(ν)σι, westgr. -τι, -ντι.

Es wird bisweilen so dargestellt, als ob das Dorische den automatischen Ersatz eines Akuts durch einen Zirkumflex vor einer kurzen Silbe, das σωτῆρα-Gesetz, nicht mitgemacht hätte. Die oben angeführten Eigentümlichkeiten deuten zwar darauf hin, aber sowohl die Diphthonge als auch die Verbindung von Vokal und Konsonanten sind im Auslaut quantitativ zweideutig. In der Metrik gelten sie somit vor einem folgenden Vokal als kurz, vor einem Konsonanten dagegen als lang. Diese Zweideutigkeit wurde mit unterschiedlichem Ergebnis in den verschiedenen Dialektzweigen übergewonnen.

Die Wörter, die auf einen einfachen kurzen Vokal ausgehen, haben in den Papyri fast überall den Zirkumflex:[16]

Alkm. 1.13 ᾶισα „Schicksal“, .81 ἇμ<᾿> „uns“, 3.8 αγῶν<᾿> „Versammlung“, .65 πυλεῶν᾿ „Kranz“, .75 ελοῖσα „nehmend“, .80 ἰο]ῖσ<᾿> „gehend“, 4 Fr. 1.10 ἡ?]βῶσ᾿ „reif (?)“, 93 ῖκα (eine Art Schädling); Stes. S135.9 δ]ρακοῖσα „sehend“, .13 αἷσι „denen“, 222(a) Fr. 4.7 τεθνᾶσι „gestorben sind“, Fr. 26 ].λφεοῖσὰ; Ibyk. S166.7 οἷά „denen“, .37 ταχ?]υτᾶτ᾿ „Schnellig?keit“, αγῶν<᾿> „Streit“, S173.4 εῦτέ „als“.

Auch in den Fällen von kurzem Vokal + Konsonanten, die in die oben behandelten Gruppen nicht hineinpassen, haben wir den Zirkumflex wie in der ionisch-attischen Norm:

Alkm. 1.2 καμöυσιν „verstorbenen“, .41, .60 ᾶμιν „uns“, .59 Κολαξᾶιος (Völkername), 61 φᾶρος „Kleid“, 4 Fr. 6.11 μεῖον „weniger“; Ibyk. S151.28 Αιγαῖον (Ortsname).

Der Grammatiker Apollonios Dyskolos, der das Zitat Alkm. 37(a) anführt, schlägt ebenfalls ausdrücklich fest, dass das Pronomen ἇμιν mit einem Zirkumflex auf dem zweitletzten Vokal zu schreiben sei.

4. Bei den archaischen Chorlyrikern scheint nur das im Alkmantext zweimal vorkommende 1.19 πάιδα [17], 3.82 παίδα „Kind“, das σωτῆρα-Gesetz zu brechen. Dass παίδα auch das einzige Wort dieser Silbenstruktur ist, in dem die zweitletzte Silbe durch Kontraktion entstanden sein soll, ist m. E. kaum zufällig.[18] Aufgrund des öfter auf attischen Vasen vorkommenden Nominativs παῦς, des kyprischen Genitivs Pi-lo-pa-wo-se (Masson 135) und der Verwandtschaft mit aind. putrá-, lat. puer wird παῖς von sämtlichen Autoritäten auf *paw-id- (idg. *p(e)h2w-) zurückgeführt.[19] Es gibt aber in diesem sowohl in den Inschriften als auch in der Literatur sehr häufigen Wort gar keine Belege für das inlautende /w/, auch nicht im Kyprischen, das treuer an das /w/ festgehalten hat als jeder andere Dialekt (in derselben Inschrift, die Pi-lo-pa-wo-se bietet, steht auch pa-i-to-se, und ebenfalls in den zahlreichen übrigen Belegen) noch im Lakonischen (z. B. 5mal παίς in IG 5(1).213), das jedoch in dieser Hinsicht unsicherer ist.[20] In der Dichtung gibt es einen zweisilbigen Nominativ, der bei Homer öfters vom Metrum gefordert wird und sonst in der Regel eingeführt werden kann[21], aber er ist kein Beweis an sich für das /w/, sondern nur für den ehemaligen Hiatus, der auf den Wegfall anderer Laute zurückgehen mag (*s, *j oder *H). Die obliquen Formen haben ihrerseits vorwiegend den Diphthong in der langen Position, und die Vorliebe ist noch ausgesprochener in der Ilias als in der Odyssee (89,9 % bzw. 82,0 %). Wenn dieses Wort überhaupt /w/ hatte, muss es schon früh geschwunden sein. Da *peh2íds sich aber kaum als gr. πάϊς hätte erhalten können, müssen wir möglicherweise von zwei Varianten der Wurzel ausgehen: *ph2w- ~ *peh2-.

Dass der Vokal kontrahiert ist, reicht freilich nicht aus, um den Akut zu begründen. Ein akzentuierter Kontraktvokal vermeidet sonst nicht den Zirkumflex, vgl. aus Alkman:

1.40 φῶς „Licht“, 1.45 ὲῆι „erlaubt“, Gen. Plur. 1.82, .96 τᾶν „der“, 3.5 υμνιοισᾶν „singend“, 3.72 π]αρσενικᾶν „Mädchen“, S5.12 Λευκοθεᾶ[ν (Göttername), .13 τρυγεᾶν (Ortsname oder Ableitung von τρύγη „Weinlese“) usw.

Der Kontraktvokal solcher Formen behält eigentlich nur die ursprüngliche Akzentuierung bei: φάος /phá.(w)os/ > φῶς /phös/ = /phóos/ „Licht“. Aus */pá.(w)i.da/ hätten wir deswegen auch /pái.da/ erwarten sollen genau wie im Ionisch-Attischen. Woher stammt denn dieses unregelmäßige /paída/? Auch der Nominativ entspricht nicht dem, was wir aus dem Vorbild der anderen Dialekte und aus den normalen Kontraktionsvorgängen hätten erwarten sollen: Alkm. 3.82 und Ibyk. S257(a) Fr. 31.5 παὶς statt παῖς wie im Ionisch-Attischen.

Der Akut ist dagegen die Regel, wo der zweite Vokal den Akzent trug: ζωός /dzoo.ós/ > ζώς /dzoós/ „lebendig“, κληΐς /klæ:(w)í:s/ > κλείς /kleís/ „Schlüssel“. Auch hier wird die ursprüngliche Tonfolge im Kontraktvokal beibehalten. Ich frage mich deshalb, ob παίς und παίδα sich auf dieselbe Weise erklären lassen, d.h. der Tongipfel lag immer auf dem /i/. In den Handbüchern gibt es zerstreute Angaben, die dieselbe Akzentuierung vermuten lassen, aber sie ist m. W. nicht in die Diskussion der dorischen Formen mit einbezogen worden.[22] Die dorische Lautentwicklung wäre gegebenenfalls völlig regelmäßig: */pa.(w)ís/, */pa.(w)í.da/ >/país/, /paí.da/. Das ionisch-attische παῖδα wird natürlich vom σωτῆρα-Gesetz vorgeschrieben:[23] /pa.(w)í.da/ >/paí.da/ >/pái.da/, während der Nominativ analogisch zu erklären ist: */pa.(w)ís/ >*/país/ → /páis/ (wie öfters im Ionisch-Attischen). Wie sollen wir aber dann das epische πάϊς verstehen? Es könnte eine Art Diektasis sein: Das unterliegende ionisch-attische /páis/ wurde zweisilbig als /pá.is/ verwirklicht, wie φάος /phá.(w)os/ > φῶς /phóos/ → φόως /phó.oos/, */en.sho.rá.on.tes/ > εἰσορῶντες /ee.sho.róon.tes/ εἰσορόωντες /ee.sho.ró.oon.tes/.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Ibykos die Schreibart S151.22 πὰϊς für die (metrisch gesicherte) zweisilbige Messung zeigt. Die ersten Herausgeber[24] des betreffenden Papyrus schrieben ].αῐc, das meine Argumente nicht stören würde. Moore-Blunt behauptet freilich: „Where the acute is not written, the grave is retroactive, indicating high pitch on the first syllable“, und deutet demgemäß ].αῐc als πάϊς.[25] Der Akzent wird aber oft genug ausgelassen, auch wo er in einer anderen Silbe gestanden hätte. Diese Diskussion scheint aber überholt zu sein: Die jüngeren Herausgeber geben jetzt die Lesart des Papyrus als πὰῐc oder πὰϊc wieder.[26] Wenn diese Lesart zutrifft, haben wir auf der ersten Silbe den Nebenton und auf der letzten Silbe demzufolge den Hauptton, genau das, was wir aus den anderen Beispielen bei den Melikern erwarten. Die Herausgeber schreiben dafür das epische πάϊς, aber der Gravis bezeichnet, wie wir es gesehen haben, vielmehr das noch nicht erreichte Tonmaximum = /`/: /pa.ì.s ék.go.nos/ = παῒς ἔκγ[ο]νος. Die Beispiele dieses Gebrauch sind im Melikertext zahlreich sowohl mit dem Hauptakzent:

Alkm. 1.4 βιὰτὰν, .5 κὸρὺστὰν, .13 πὰντῶν, .14 γεραὶτάτοι, .32 Ὰΐδᾱς, .35 μὴσὰμένοι, .43 επαὶνὲν, .44 μὼμέσθαι, .45 ὲῆι, .58 πὲδ Ἂγὶδὼι, .61 φὲροίσαις, . 72 Σὺλὰκίς τε, Κλὲὴσισήρα, .73 Ἀὶνησιμβρότας, φὰσεῖς, .79 αὺτοῖ, .80 Ἂγὶδοῖ, .81 θὼστήρ[ια, επαὶνεῖ, .82 σὶοὶ, .85 ἀὺτά, .89 ὶάτωρ, 3.73 Ὰ[στ]ὺμέλοισα; Stes. 222(a) Fr. 2.6 ῒοχέαιρα, .7 ὰγρὲσ[ι]θήρα; Ibyk. S151.42-3 ὸρὲι|χάλκωι, S166.12 ὲδώκ[αν, .18 αντὶθέοι, S192(a).5 νὸὸν, .14 ὰγερώχοι, S205.3 τε]τρὰπέτα[λ-, S257(a) Fr. 1 Kol. I.12 θὲάι. Fallender Ton: Alkm. 1.19 Πόρκὼ, .21 ερογλεφάρὸι, .37 όλβὶος, .71 αρέτὰ, 3.80 ἄσ]σὸν, 3 Fr. 4.7 άεὶσεν.

als, wie hier, ohne ihn:

Alkm. 1.1 Πὼλυδευκης, .40 Ὰγιδω, .42 Ὰγὶδω, .48 πὰγον, κὰνὰχαποδα, .51 ὰ δε, .59 Ειβὴνωι, .71 σὶεὶδης, .74 Αστὰφις, .101 ὰ δε, κὸμισκαι. 3.76 δὶαὶπετης, .100 ὰλλα; Stes. S15 Kol. II.10 ὰντικρυς, οὶ[σ]τος, S20 Kol. II.6 πευ]|κὰλιμο[ισιν, 222(a) Fr. 39.11 τὲρπνον; Ibyk. S179.2 ὸϊστος. Fallender Ton: Alkm. 1.11 αριστὼς.

Alles deutet also darauf hin, dass πὰϊς für /pa.ís/ steht, und dass das die zweisilbige Entsprechung von /país/ ist, ganz wie πάϊς /pá.is/ in der ionisch-attischen Dichtung normalsprachlichem παῖς /páis/ entspricht.

5. Dass *pa(w)íd- tatsächlich den Ausgangspunkt bilden muss, geht auch daraus hervor, dass das Suffix -ίδ- sonst immer betont ist: κορωνίς, ἐλπίς, ἀσπίς, usw.[27] Zur Wurzel *daw- in δαίω ist das Substantiv *daw-íd- gebildet: Wir haben davon regelmäßig episch δαΐς, δαΐδα ohne Kontraktion, im Attischen dagegen kontrahiertes δᾴς, δᾷδα, wo der Akkusativ das σωτῆρα-Gesetz zeigt wie im Falle von παῖδα.[28] Der Genitiv Singular παιδός, δᾳδός ist analogisch (nach πούς, ποδός), aber der Genitiv Plural παίδων, δᾴδων verrät die ursprüngliche Zweisilbigkeit.[29] Alles spricht folglich dafür, dass die Schreibarten παὶς, πάιδα, παίδα dem ursprünglichen Zustand entsprechen.

Als das σωτῆρα-Gesetz im Dorischen zum ersten Mal seinen Einfluss übte, wurde die Wurzel /pa.id-/ immer noch als zweisilbig gerechnet, und sie ist deshalb freigegangen. Auch nach der Zusammenziehung der zwei Vokale in einen Diphthong wurde die besondere Akzentuation beibehalten. Das σωτῆρα-Gesetz war natürlich auch im Dorischen (wenn wir die zahlreiche positive Beispiele dafür glauben dürfen) eine synchrone Realität, aber der westliche Zweig scheint mehrere historisch bedingte Unregelmäßigkeiten erlaubt zu haben, als es im Ionisch-Attischen der Fall war.

Wie erwähnt gibt es im ionisch-attischen System keine funktionelle Opposition zwischen dem Akut und dem Zirkumflex, weil sie sich ergänzen. Der Melikertext bricht aber dieses grundlegende Muster, wenn er im Akkusativ Singular παίδα gegenüber ἶκα, ἀγῶνα, πυλεῶνα zeigt. Wie konnte sich dieser höchst seltene Typ, der kontrahierte suffixbetonte Akkusativ Singular, sich allein gegenüber den unzähligen properispomenischen Formen behaupten? Die Frage ist, ob wir die Anomalie irgendwie strukturell retten können, so dass es erträglicher wird, dass sie bis zur Niederschreibung der Melikertexte aufrechterhalten wurde.

In der Deklination der indogermanischen Nomina unterscheidet man bisweilen Kolonnenbetonung und bewegliche Betonung. Wo der Akzent immer, von links gerechnet, auf dieselbe Silbe fällt, spricht man (seit Saussure) von Kolonnenbetonung, weil die akzentuierten Silben eine Säule im Paradigma bilden, z. B. Sing. Nom. *ph2, Akk. *ph2térm, Gen. *ph2trós, Plur. Nom. *ph2téres, Gen. *ph2trōm, dessen Akzent immer auf die zweite Silbe fällt. Die Wurzelnomina (u. a.) haben dagegen einen beweglichen Akzent, z. B. Sing. Nom. *pōds : Akk. *pódm : Gen. *pedós : Plur. Nom. *pódes : Gen. *pedōm. Diese Typen sind im Altindischen und Griechischen erhalten (pitā , pitáram, pitráh usw., πατήρ, πατέρα, πατρός usw.; pāt*, pádam, padáh usw., πούς, πόδα, ποδός).[30]

Der Ausgangspunkt war auch für *pawíd- die Kolonnenbetonung, die aber wegen der früh eingetroffenen Kontraktion weitgehend geändert werden musste. Im Ionisch-Attischen und im Dorischen hat man παιδός und παισί und im Dorischen auch παιδῶν eingeführt (vgl. Ibyk. S173.7 παιδῶν), wie ποδός, ποσί, ποδῶν. Unmittelbar spricht das gegen meine Sache, weil es kaum wahrscheinlich ist, dass man den einzigartigen Akut im Akkusativ Singular bewahren würde, wenn man ihn schon dort aufgegeben hätte, wo er das Akzentsystem nicht stören würde. Der Anschaulichkeit wegen habe ich unten verschiedene Paradigmen phonologisch ausgeschrieben.

Kolonnen-
betonung

Mobile
Betonung

Dor.

Ion.-att.

soo.teér

el.pís

pa.teér

póos

bóus

país

páis

soo.tée.ra

el.pín

pa.té.ra

pó.da

bóun

paí.da

pái.da

soo.tée.ri

el.pí.di

pat.rí

po.dí

bo.í

pai.dí

pai.dí

soo.tée.ros

el.pí.dos

pat.rós

po.dós

bo.ós

pai.dós

pai.dós

soo.tée.res

el.pí.des

pa.té.res

pó.des

bóos

paí.des

pái.des

soo.tée.ras

el.pí.das

pa.té.ras

pó.das

bóos

paí.das

pái.das

soo.tée.rsi

el.pí.si

pat.rá.si

po.sí

bou.sí

pai.sí

pai.sí

soo.teé.roon

el.pí.doon

pat.róon

po.dóon

bo.óon

pai.dóon

paí.doon

Das dorische παίς, παίδα, παιδός usw. hat zwar die idg. Kolonnenbetonung insofern verlassen, als der Akzent nicht mehr auf dieselbe Silbe fällt. Aber es bildet eine erstaunliche Parallele zum Paradigma πατήρ, πατέρα, πατρός usw., um so mehr wenn man nicht die Silben, sondern die Moren zählt: país : paí.da : pai.dí : pai.dós :: paí.des : paí.das : pai.sí : pai.dóon = pa.teér : pa.té.ra : pat.rí : pat.rós :: pa.té.res : pa.té.ras : pat.rá.si : pat.róon. Der Wechsel παί(δ)| = πατέρ| = ματέρ| = θυγατέρ | ~ παι(δ)|´ = πατρ|´ = ματρ|´ = θυγατρ|´ bildet im dorischen System eine Untergruppe der mobilen Betonung (die beiden letzten aber mit zurückgezogenem Akzent im Nominativ). Dass diese Wörter sich auch semantisch verwandt sind, ist kaum ein Zufall. In einer vorgeschichtlichen Zeit war auch ἀνήρ Teil dieses Paradigmas (vgl. das dichterische ἀνέρα, ἀνέρες), und γυναικ-,[31] das mit einem Akut im Nominativ Plural belegt worden ist, würde, wenn der Akut auch im Akkusativ Singular stünde, genau zu θυγατέρα (und weniger genau zu ματέρα) stimmen: gu.naá : gu.naí.ka : gu.nai.kí : gu.nai.kós :: gu.naí.kes : gu.naí.kas : gu.naik.sí : gu.nai.kóon = thu.gá.teer : thu.ga.té.ra : thu.gat.rí : thu.gat.rós :: thu.ga.té.res : thu.ga.té.ras : thu.gat.rá.si : thu.gat.róon, d.h. γυναίκ| = θυγατέρ| ~ γυναικ|´ = θυγατρ|´.

6. παίδα soll aber nicht der einzige paroxytone Akkusativ sein. Kuryłowicz formuliert es als eine Regel - ohne sich auf explizite Quellen zu berufen - dass der Akkusativ Singular im Dorischen überhaupt baryton sei, und führt die Beispiele αἴγα „Ziege“ und γλαύκα „Eule“ an.[32] γλαύκα ist m. W. ganz aus der Luft gegriffen, aber bei Theokrit, der im 3. Jh. v. Chr. seine gelehrten Idyllen u. a. auf einem literarischen Dorisch verfasste, ist schon 1.143 άιγα·ν· im Papyrus P.Oxy. 2064 belegt. In den Papyri aus dem 2. Jh. n. Chr. ist der Akut in solchen Wörtern aber sonst selten: auch 8.16 ἀριθμεύντι „rechend“ (in P.Oxy. 2064), 14.43 άινός „Fabel“ (in P.Oxy. 2945) und 3.53 ὥδε „so“ (in P.Oxy. 3547), während der Zirkumflex dort 18mal steht.[33] Der Akut scheint dagegen im Antinoe-Papyrus aus dem 5. Jh. n. Chr. häufiger gewesen zu sein, vgl. 7.105 Φιλ[ε]ῖνος (in P.Oxy. 2064), aber 2.105 Φιλίνον (in P.Ant.), ferner in demselben Papyrus: 2.56 λιμνάτις „Sumpf-“, .70 μακαρίτις „die Selige“, 15.9 ώμες „seien“, .108 στάθος „Brust“ (dessen Vokalismus ohnehin hyperdorisch ist, = στῆθος) und 18.24 θήλυς „weiblich“.

Auch im Nominativ und Akkusativ Plural der dritten Deklination soll das Dorische laut der antiken Grammatiker einen Akut verlangen.[34] Bei unseren Melikern sind Alkm. 1.90 νεάνιδες „junge Frauen“, Stes. 222(a) Fr. 62.8 π]εριμάκεας „sehr groß“, Ibyk. S166.11 δάι|[μονες „Götter“?, .19 (º)οπάονες „Gefolgsmann“, .28 Ιάονας (Völkername), S192(a).3 αρήονες „bessere“ überliefert, die diese Lehre nicht widerlegen müssen (vgl. oben μαρτύρεται ~ δραμέιται). In den Theokritpapyri gibt es jedoch mehrere Beispiele dafür: 7.104 χέιρας „Hände“ (in P.Oxy. 2064), 7.106 πάιδες „Kinder“ (in P.Oxy. 2064), 14.20 φονεύντε[ς „tötende“ (in P.Ant.) und 26.18 γυναί[κες „Frauen“ (in P.Par.Vind.). Der Akut ist aber m. E. nur in Formen wie πάιδες und γυναί[κες echt, während die anderen Formen künstliche Erweiterungen dessen Typs sind. Die Beispiele der Grammatiker sind wahrscheinlich aus den dorischsprachigen Dichtern geerntet, und zwar zunächst aus dem Theokrittext. Es ist auf jeden Fall bemerkenswert, dass der Grammatiker Choiroboskos (um 400 n. Chr.) gerade die Beispiele παίδες, αἴγες und γυναίκες erwähnt (Gramm. Graec. 4(1).386 Hilgard).

Theokrit hat seine Texte kaum mit Akzentzeichen versehen, v.a. weil solche zu seiner Zeit noch nicht erfunden waren! Sie tauchen in den Papyri erst ab dem 2. Jh. v. Chr. auf[35], vielleicht (laut des antiken und modernen Mythus) durch die Tätigkeit des Aristophanes von Byzanz, der auch der hellenistischen Melikerausgabe vorgestanden sein soll. Der Gebrauch der Akzente in den Theokritos-Papyri nimmt gegen das Ende des Altertums zu, und der Akut scheint allmählich den σωτῆρα-Zirkumflex verdrängt zu haben (vgl. Φιλ[ε]ῖνος → Φιλίνον). Ihr Dasein dort ist vielmehr sekundär nach dem Vorbild des hellenistischen Melikertextes zu erklären, und es überrascht deswegen nicht, dass die Abschreiber, die diese Texte durch den dorischen Akzent verbessern wollten, ihn über das eigentliche Maß hinaus übertrieben. Ob 13.65 παίδα in Perg.Louvr. 6678 (5. Jh.) zufällig mit der alkmanischen Praxis übereinstimmt oder einer gesunden Theorie entspringt, ist unsicher.

7. Aus den obigen Untersuchungen ergibt es sich, dass die Abschaltung des σωτῆρα-Gesetzes im Dorischen beschränkt und geregelt war. Der Akut wurde zwar von einer größeren Zahl von Endungen gefordert, als es im Ionisch-Attischen der Fall war, aber in beiden Zweigen war die Wahl nicht ausschließlich lautlich bedingt, sondern gewissermaßen auch morphologisch. Ich bin überzeugt, dass die Besonderheiten des dorischen Akzents im Großen Ganzen auf die zweite vorchristliche Jahrtausend zurückgeht, vgl. die vorgeschobene Akzent vor den Endungen *-ont, *-ant, die ihr auslautendes *t wohl schon dann verloren haben, und die Festlegung des Akzentsitzes geht auf jeden Fall allen Kontraktionen voraus. Das Attisch-Ionische hat die Kontraktvokalen dem früher eingesetzten σωτῆρα-Gesetz unterworfen, aber das war im Dorischen nur in beschränktem Maße der Fall, wie es aus der Form παίδα hervorzugehen scheint.

Mit dem Zeugnis der archaischen Melikern Alkman, Stesichoros und Ibykos stimmen hinsichtlich des Akzentes auch die Papyri des Komödiendichters Epicharm (5. Jh. v. Chr.) und des Alexandriners Theokrit überein, letztere aber mit einer gewissen Vereinfachung der Regeln, die m. E. eine spätere Überarbeitung verrät. Außer Alkman kamen die betreffenden Dichter alle aus Sizilien und Unteritalien, und es mag deshalb sein, dass derjenige, der die Akzente im hellenistischen Alkmankorpus setzte, vielmehr einen westlichen Dialekt als Vorbild nahm. In meiner Dissertation setze ich mich aber dafür ein, dass die Gedichte Alkmans gemäß der tatsächlichen spartanischen Performanz niedergeschrieben wurden. Die Frage, ob die dorische Akzentuation auch Teil dieser Performanz sein mag, lässt sich schwierig beantworten. Es ist überhaupt umstritten, ob die Melodie der strophischen Dichtung (zu der die Melik gehörte) auch den sprachlichen Ton berücksichtigte. Wenn dies der Fall wäre, müsste jede Strophe die Akzenten weitgehend auf derselben Stelle tragen, aber eine derartige Responsion lässt sich in Alkmans großem Partheneion-Fragment nicht eindeutig bestätigen.[36]

Wie der dorische Akzent in den Melikerpapyri überliefert worden ist, scheint er aber mit all seinen Finessen, authentisch zu sein, d.h. er ist wahrscheinlich gemäß des Vortrages eines eingeborenen Dorers (eventuell von einem eingeborenen Dorer selbst) in den Text eingeführt worden. Aus dieser sparsamen Quelle lassen sich wichtige Hinweise für die Vorgeschichte des Dialektzweiges und der griechischen Sprache als solcher schöpfen, die aus den bloßen Buchstaben kaum zu gewinnen wären.



[1] Die Fragmente sind mit den Ziffern der Ausgabe von Davies, Poetarum melicorum Graecorum fragmenta, Bd. 1, Oxford 1991, angeführt worden. In solchen Fragmenten behalte ich normalerweise die Akzentuierung der Überlieferung bei und ergänze keine Diakritika, wo sie nicht überliefert worden sind.

[2] Die konsequente Akzentuierung taucht in den Prosatexten erst um 800 n. Chr. auf, vgl. Mazzucchi, Aegyptus 59 (1979) 161-7.

[3] Sturtevant, The Pronunciation of Greek and Latin, Philadelphia 1940, 94-105, Allen, Vox Graeca, Cambridge 1987, 116-24, Devine/Stephens, The Prosody of Greek Speech, Oxford 1994, 171-94. Alle gehen von der Beschreibung bei Dionysios von Halikarnass, De compositione verborum 11.15-7, aus.

[4] Devine/Stephens, a.a.O., 173, und West, Ancient Greek Music, Oxford 1992, 199-200.

[5] Dass der Gravis auf der Endsilbe einer sekundären Reduktion und Verschiebung des redundantem Gravis entspringen soll, wie es Laum, Das Alexandrinische Akzentuationssystem, Paderborn 1928, S. 407, 492-3, behauptet, ist kaum stichhaltig. Der eigentliche Gravis kommt ja auch seit den ältesten Texten vor.

[6] Die jüngste Darstellung bei García Teijeiro, in: Dialectologia Graeca: Actas de II Coloquia Internacional de Dialectología Griega 1991, Madrid 1993, 156-62. Er listet die meisten Beispiele des dorischen Akzent bei diesen drei Melikern und bei Theokrit und Epicharm auf; er kommt aber nur in beschränktem Maße auf seine sprachliche und textliche Entwicklungsgeschichte ein.

[7] Vgl. Kuryłowicz, L'Accentuation des langues indo-européennes, Breslau/Krakau 21958, 106-7, und Indogermanische Grammatik. II. Akzent. Ablaut, Heidelberg 1968, 83-4.

[8] Vgl. Ahrens, De Graecae linguae dialectis. II. De dialecto Dorica, Göttingen 1843, 28 A. 8. Sch. Theokr. 1.83 καθόλου τὰ εἰς -ται ῥήματα, ὅταν τῶι -η-παραλήγεται περισπομένως, παροξυτονοῦσι Δωριεῖς· ὅταν δὲ βαρυτόνως, ὁμοίως ἡμῖν ἐκφέρουσιν.

[9] Die modernen Herausgeber, die sich sonst nicht davor scheuen, den dorischen Akzent wiederherzustellen, wo er nicht überliefert steht, behalten bei Alkman nicht nur in den handschriftlichen Zitaten 73 ἔβαλλον und 82 λῦσαν bei, sondern korrigieren auch die Schreibung der Papyri: ἔδειξαν (so bei Page, Davies) oder ἐδί<δα>ξαν (so bei Calame).

[10] So Hermann, Indogermanische Forschungen 38 (1920) 148-58; Thumb/Kieckers, Die griechischen Dialekte, Bd. 1, Heidelberg 1932, 75-6; Meier-Brügger, in: Rekonstruktion und relative Chronologie. FT Leiden 1987, Innsbruck 1992, 286 ("Kolonnenakzent"). Kuryłowicz, L'Accentuation 158-9, versucht eine gleiche Erklärung: die 3. Person Plural auf -αν, -εν, -ον stand gegenüber einer 1. Person Singular auf -ᾱν, -ην, -ων ~ -ον; man hat es so aufgefasst, dass -αν, -εν, -ον morphologische Kürzungen von einem unterliegenden -ᾱν, -ην, -ων waren, und hat den Akzent gemäß dieser Auffassung gesetzt.

[11] Méndez Dosuna, Emerita 61 (1993) 112, erklärt freilich πόλεως usw., dadurch, dass die zwei letzten Vokale in Synizese eingingen, d.h. /pó.leo:s/, so dass nur eine einzelne lange Silbe nach der betonten Silbe stand. Eine Form wie δύσερως, die analog nach dem aus der quantitativen Metathese entstandene attische Deklination, z. B. Ἀρχεσίλεως, gebildet worden ist, setzt aber unzweideutig voraus, dass der erste Vokal als eine selbständige Mora aufgefasst wurde.

[12] Schwyzer, Griechische Grammatik, Bd. I, München 1939, 384.

[13] Hermann, Silbenbildung 85 behauptet, dass der attische Akzent lediglich der „Akzent der Pausaform" gewesen sei. Man erklärt aber dann schwierig die unterschiedliche Behandlung der Diphthonge (und im Dorischen auch der kurzen, konsonantisch auslautenden Silben), wenn es nicht alles die Erfindung der Grammatiker ist (der Akzent wird aber in der Tat trotz des Diphthongs auf die drittletzte Silbe zurückgezogen).

[14] Damit haben wir aber nicht den Akzent in Wörtern wie φοῖνιξ erklärt, deren Schlusssilbe sowohl vor Konsonanten als vor Vokalen lang sind. Solche Beispiele indizieren, dass der Akzent tatsächlich von der Schwere der Silbe unabhängig ist und dafür den Ausgangspunkt ausschließlich in der Länge des letzten Vokals nimmt. Wir können aber zwei Phasen unterscheiden, die eine mit der Silbenschwere als dem entscheidenden Faktor, die andere mit der Vokallänge (als eine Folge der Erstarrung unterschiedlicher Sandhiakzente).

[15] Nagy, Greek Dialects and the Transformation of an Indo-European Past, Baltimore/London 1970, 138-9.

[16] Blass, Rheinisches Museum für Philologie 25 (1870) 180, und Hermes 13 (1878) 21, las in Alkm. 1.73 ενθοícα „gekommen"; Page, Alcman. The Partheneion, Oxford 1951, 8, bemerkt dazu „perhaps rightly", aber druckt nichtsdestoweniger ενθöισα. Der betreffende Buchstabe ist unvollständig, und es mag sein, dass auch ein Teil des Diakritikons verschwunden ist. Ich will jedoch nicht das ganze σωτῆρα-Gesetz im Dorischen wegen eines möglichen halben Akuts fallen lassen. Vgl. dagegen Ruijgh, Mnemosyne 42 (1989) 165-6 (= Scripta minora, Bd. 2, 1996, 494-5).

[17] Ob der Akut auf dem ersten oder dem zweiten Segment des Diphthongs steht, macht in der antiken Schreibweise für die Prosodie nichts aus.

[18] In πυλεῶν᾿ gehen die beiden zusammenstoßenden Vokale zwar in eine Silbe zusammen, aber der Zirkumflex geht dort der Kontraktion voraus: /pu.le.óo.na/ >/pu.leóo.na/; doch eventuell ἡ]βῶσ᾿ /he:.bóo.sa/ < */he:.bá.on.sa/ (*/he:.bé.on.sa/?), vgl. aber unten.

[19] So Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, Heidelberg 1972, 463, und Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Paris 1968-80, 850.

[20] Neumann, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 84 (1970) 76-9, meint deshalb nicht, dass das < w->in Pi-lo-pa-wo-se ein ursprüngliches /w/ widerspiegelt (das er jedoch nicht verwirft); vielmehr handle es sich um eine sekundäre Form, die auf das monophthongierte /(º)pa:s/ gebildet worden sei (mit sekundärem /w/ wie in den i-Stämmen Masson 11, 166 O-na-si-wo-se, 173, 178 Ti-we-i-te-mi-wo-se). Das attische παῦς beruht wahrscheinliche auf falschen Les- und Schreibarten, vgl. Threatte, Grammar of Attic Inscriptions, Bd. 2, Berlin/New York 1996, 278-9.

[21] Vgl. Chantraine, Grammaire homérique, Bd. 1, Paris 1958, 29, und West, Homeri Ilias, Bd. 1, Stuttgart/Leipzig 1998, xxv.

[22] Hermann, Indogermanische Forschungen 38 (1920) 149-50 und Silbenbildung im Griechischen und in den anderen indogermanischen Sprachen, Göttingen 1923, 46-7, betrachtet *pawíd- als eine Femininbildung, die schließlich mit dem maskulinen *páwi- vermengt wurde (dazu Kretschmer, Glotta 12 (1923) 186-7); Meier[-Brügger], -ίδ-: zur Geschichte eines griechischen Nominalsuffixes, Göttingen 1975, 58, bemerkt lakonisch zur Form πάϊς: „Akzent!, sekundär statt *παΐδ-?"; Sihler, New Comparative Grammar of Greek and Latin, New York / Oxford 1995, 237, schreibt ebenfalls, en passant und ohne Quellenangaben, „παΐς (πάϊς) 'boy', earlier παίς < *pawíts".

[23] Vgl. Lejeune, Phonétique historique du mycénien et du grec ancien, Paris 1972, 295.

[24] Grenfell/Hunt, The Oxyrhynchus Papyri, Bd. 15, London 1922.

[25] Moore-Blunt, Rendiconti dell'Istituto Lombardo 110 (1978) 146.

[26] Page, Poetae melici Graeci, Oxford 1962, 145, Barron, Bulletin of the Institute of Classical Studies 16 (1969) 120 bzw. Page, Supplementum lyricis Graecis, Oxford 1974, 45, Davies, Poetarum melicorum Graecorum fragmenta, Oxford 1991, 244. Unzweideutig ist die Plazierung aber nicht; vgl. das Foto Barron, a.a.O., Pl. V, oder http://www.csad.ox.ac.uk/POxy/VExhibition/images/1790.jpg.

[27] Schwyzer, GG I 464-5, Meier[-Brügger], a.a.O., 11-20. Die barytonen Substantive auf /-´id-/ sind ursprüngliche /i/-Stämme, z. B. ἔριν ~ ἔριδα, ὄπιν ~ ὄπιδα. Dieses Muster hat wahrscheinlich auch die hellenistische Variante παῖν motiviert: /é.ri.da/ ~ /é.rin/ = /pái.da/ ~ /páin/. Ein echtes barytones -´ιδ-treffen wir nur als das Femininsuffix von barytonen Maskulinen: ἐργάτις, πολῖτις, νεᾶνις usw.

[28] Schwyzer, GG I 265-6, und Chantraine, DELG 248; der attische Langdiphthong erklärt sich wohl aus (analogischem?) *daiw-íd-. Zum Akzent der beiden Varianten, vgl. Herodian, Gramm. Graec. 2(1).399.23 τὸ δὲ δᾴς δᾳδός τοῦ ι προσγεγραμμένου ὀξύνεται ὡς ἐκ τοῦ δαΐς ὀξυνομένου συναιρεθέν.

[29] Schwyzer, GG I 379, Kuryłowicz, Idg. Gr. 97.

[30] Kuryłowicz, L'Accentuation 13-35, 113-130, Idg. Gr. 26-33, 87-97.

[31] Szemerényi, Annali Istituto Orientale di Napoli 2 (1960) 26-30 (= Scripta minora, Bd. 3, Innsbruck 1987, 185-9), leitet γυναικ- von einem nach ἀνήρ umgebildeten *gunā-ikósweiblich" ab. Schmidt, in: Lautgeschichte und Etymologie. FT Wien 1978, Wiesbaden 1980, 409-10, vermutet dagegen ein idg. *gwnai- nicht nur im Griechischen, sondern auch im Armenischen (kanay-) und im Tocharischen (A kule, B klai).

[32] Kuryłowicz, Idg. Gr. 89.

[33] Vgl. Molinos Tejada, Los dorismos del Corpus bucolicorum, Amsterdam 1990, 12-4.

[34] Ahrens, Dial. Dor., 28-31.

[35] Turner, Greek Manuscripts of the Ancient World, London 1987, 11.

[36] West, Anc. Gr. Mus., 198-9. Wahlström, Commentationes Humanarum Litterarum. Societas Scientiarum Fennica 47 (1970) 1-22, und Raasted, Museum Tusculanum 28-29 (1976) 3-17, argumentieren für eine Responsion in der älteren Chorlyrik (dagegen Devine/Stephens, a.a.O., 169-71). In der Dissertation wage ich keine endgültigen Schlüsse zu ziehen, aber meine Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Responsion, wenn es sie überhaupt gab, eher einen ionisch-attischen Akzent unterstützte als den dorischen Akzent, wie er im Text überliefert worden ist.